Lignum Holzwirtschaft Schweiz

‹Das Wild frisst die Bäume, die wir für die Zukunft brauchen›

Nicht nur im Kanton Bern, sondern in vielen Schweizer Wäldern und vor allem in Schutzwäldern fehlt es an nachwachsenden Bäumen. Ein Grund sind Rothirsche, Gemsen und Rehe, die junge Bäume verbeissen oder fegen. Warum das so ist und was es mit Blick auf den Klimawandel bedeutet, erklärt die Wissenschaftlerin Andrea Doris Kupferschmid.

Dr. Andrea Doris Kupferschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Waldressourcen und Waldmanagement, Bestandesdynamik und Waldbau an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in Birmensdorf.
Bild WSL

 

Frau Kupferschmid, welchen Einfluss haben Wildhuftiere auf Schweizer Wälder?
Wenn Rehe, Rothirsche und Gemsen die Triebe von jungen Bäumen oder ganze Jungbäume fressen, wird dies Wildverbiss genannt. Die Tiere fressen aber nicht alle Baumarten gleichermassen, sondern picken sich gezielt jene heraus, die ihnen schmecken. So werden nur noch einzelne Baumarten zu grossen Bäumen. Wildverbiss kann somit langfristig zu Veränderungen in der Artenzusammensetzung, also zu einer Entmischung einzelner Baumarten führen.

Warum ist das kritisch?
Die Baumverjüngung – dass eine neue Generation von Bäumen aufwächst – ist entscheidend für die Zusammensetzung der zukünftigen Wälder. Die Verjüngung beeinflusst massgebend die Stabilität und die Fähigkeit der zukünftigen Wälder, sich von Stress oder Störungen zu erholen.

Hoher Wildeinfluss führt zu einer weniger grossen Vielfalt von Baumarten, was sowohl bezüglich der Biodiversität als auch der Schutzwaldwirkung schlecht ist. Zum Beispiel sind reine Fichtenwälder viel anfälliger auf Borkenkäfer als Mischwälder mit Fichte, Weisstanne und Bergahorn. Die letzten beiden Arten halten auch Stürme und Trockenheit besser aus als die Fichte.

Wenn der alte Bestand stirbt und zu wenig Verjüngung aufwächst, müssen in Schutzwäldern teure Verbauungen gegen Naturgefahren gebaut werden. Es gibt eine ganze Kette von Folgen für die Wälder, wenn einzelne oder sogar alle Baumarten infolge des Wildeinflusses nicht mehr aufkommen können.

Auch mit Blick auf den Klimawandel?
Ja, genau. Der Klimawandel wird mehr Extremereignisse wie Stürme, Massenausbreitungen von Käfern, Trockenheit und Hitze bringen. Mischbestände – also artenreiche Bestände – können solchen Störungen besser standhalten als Reinbestände. Viele Buchenwälder haben beispielsweise ein Problem, wenn es trockener wird, da die Buche anfällig auf Trockenheit ist. Man sollte dort trockenheitsresistentere Bäume wie Eiche, Kirsche, Ahorn und Mehlbeere fördern.

Wir beobachten jedoch, dass das Wild gerade Baumarten, welche wir für die Zukunft benötigen, vermehrt frisst oder fegt. Dies sind in Buchenwäldern insbesondere die Eiche oder der Ahorn, im Gebirgswald die Tanne und die Vogelbeere, noch weiter oben Bergföhren oder Lärchen.

Hat sich der Wildeinfluss in der jüngsten Zeit verstärkt?
Das ist so. Einerseits werden die Tiere vermehrt aus den offenen Flächen in den Wald vertrieben. Gerade Rothirsche und Gemsen würden vorwiegend auf dem offenen Land äsen. Das können sie in der Schweiz aber immer weniger. Da es in den Wäldern meist weniger Nahrung hat, verbeissen sie dort dann auch Bäume. Aber auch in den Wäldern nehmen Störungen besonders durch Erholungssuchende zu. Meist ziehen sich dann die Tiere ins geschützte Dickicht oder in Verjüngungsbestände zurück.

Andererseits haben die Wildpopulationen in der Schweiz zugenommen, und der Rothirsch hat sich weiter ausgebreitet. Wir haben bereits jahrzehntelang einen hohen Verbiss, das belegt beispielsweise das von der WSL durchgeführte Schweizerische Landesforstinventar. Das heisst, mittlerweile fehlen in gewissen Wäldern nicht nur die ganz kleinen Bäume, sondern auch die mittelgrossen, die in unmittelbarer Zukunft den Naturgefahrenschutz übernehmen müssten.

Zudem sollten viele Waldbestände artenreicher werden, um ihre Funktionen längerfristig sicherzustellen. Besonders wichtig sind Baumarten, von denen wir annehmen, dass sie mit den wärmeren und trockneren Bedingungen besser zurechtkommen werden. Da aber gerade diese besonders gern verbissen werden, sind heute mehr Gebiete vom Wildeinfluss betroffen.

Auf politischer Ebene wird oft von einem Wald-Wild-Konflikt gesprochen. Warum?
Der Konflikt entsteht, wenn Wildhüter und Wildhüterinnen respektive Jägerinnen und Jäger der Meinung sind, es habe relativ wenig Wild oder das Wild stelle kein Problem für die Waldverjüngung dar. Auf der anderen Seite beobachten jedoch die Forstfachleute, dass gerade die zukunftsfähigen Baumarten häufig verbissen oder gefegt werden.

Im Prinzip ist es kein Konflikt zwischen Wald und Wild, sondern ein Konflikt von Menschen, die im Waldbereich arbeiten, und Menschen, die jagen oder Wildhüter, Wildhüterinnen sind. Also ist es ein Mensch-Mensch-Konflikt. Reh, Rothirsche und Gemse – das Wild – hat keinen Konflikt mit dem Wald.

Dort sehe ich auch den Lösungsansatz: Menschen müssen miteinander sprechen und aufeinander zugehen. Dann kann man den Konflikt lösen. Wird das Problem immer nur auf Wald und Wild abgeschoben, können auch keine Kompromisse gefunden werden.

Was sind Ihre Empfehlungen im Umgang mit der Wald-Wild-Thematik?
In der Umsetzung sollten Massnahmen auf der lokalen Ebene greifen und an die lokalen Bedingungen angepasst sein. Die lokalen Forstfachleute, Jägerinnen und Jäger kennen die Wälder und das Wild vor Ort am besten. Daher ist es zentral, dass die Interessengruppen auf Seite des Waldes und der Jagd gemeinsam Massnahmen erarbeiten und umsetzen.

Sie können beispielsweise den Lebensraum aufwerten, Schussschneisen anlegen, Schwerpunktbejagungen organisieren, Verjüngungsschläge durchführen etc. Diese Massnahmen sollten koordiniert werden, damit sie gemeinsam zum Ziel der Förderung einer artenreichen Verjüngung führen. Die Wirkung der Massnahmen sollte überprüft werden, so dass sie gegebenenfalls ergänzt oder verstärkt werden können.

Im Wald- wie im Jagdgesetz ist festgelegt, dass der Wildbestand so zu regeln sei, dass die Verjüngung des Waldes ohne Schutzmassnahmen wie Einzelschutz oder Zäune  gesichert ist. Dennoch hat sich die Situation in vielen Gebieten nicht verbessert und an gewissen Orten gar verschlimmert. Die Behörden könnten dort mit Einflussnahme auf die Wald-Wild-Konzepte eine konsequentere Umsetzung dieser Gesetze fördern. Dies ist es auch, was indirekt das aktuelle Postulat von Othmar Reichmuth fordert. Ausserdem könnte man auch gewisse Erleichterungen bei der Jagd einführen. Zum Beispiel, dass man zu anderen Zeiten jagen darf.

Was kann die Forschung zur Konfliktlösung beitragen?
Wir versuchen, den tatsächlichen Wild-Einfluss neutral aufzuzeigen, insbesondere wo sich die verschiedenen Parteien nicht einig sind. Dies machen wir mit gezielten Inventuren, wobei wir auf Stichprobenflächen die Wirkung von Verbiss auf die Baumverjüngung beurteilen. Zudem können wir bessere Methoden für Gutachten und Monitorings schaffen und die Förster und Försterinnen unterstützen, den Verbisseinfluss besser zu beurteilen.


Interview WSL
 

Link www.wsl.ch