Forscher überrascht: Wurzeln wachsen auch im Winter

Die unterirdische Welt der Bäume ist noch wenig erforscht, da sie für das menschliche Auge meist nicht sichtbar ist. Zudem ist das Wurzelwerk schwierig zu untersuchen, ohne einem Baum zu schaden. Obwohl die Wurzeln von grosser Bedeutung für Ernährung, Wasseraufnahme und Verankerung der Bäume sind, basiert das wissenschaftliche Verständnis des hölzernen Wurzelwachstums daher bis jetzt mehrheitlich auf Annahmen. Die Erosion hat bei dieser Fichte im Zürcher Wald freigelegt, was sonst unter dem Boden verborgen bleibt.
Bild Michael Meuter, Zürich
Die Lehrbuchmeinung ist, dass das Wachstum von Laubbaumwurzeln in gemässigten Zonen dem saisonalen Wachstum des Baumstammes entspricht. Demnach stellen sowohl Stamm als auch Wurzeln im Herbst ihr Wachstum ein, da es dann zu kalt wird. Im Frühjahr, wenn die Wetterbedingungen wieder günstiger werden, soll das Wurzelwachstum wieder beginnen. Diese Annahme wurde jedoch nie gründlich geprüft.
Eine neue Studie, welche von Wissenschaftlern der Universität Antwerpen in Zusammenarbeit mit europäischen Partnern durchgeführt wurde – darunter auch die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft –, stellt diese nun in Frage. Sie beweist, dass die Baumwurzeln in den kälteren Monaten weiterwachsen, auch wenn die Stämme ihr Wachstum bereits eingestellt haben.
Experiment mit Waldbäumen und jungen Topfbäumen
Lorène Marchand von der Universität Antwerpen, Hauptautorin des Artikels, der im Januar im Fachjournal ‹Nature Ecology and Evolution› veröffentlicht wurde, erklärt: ‹Wir wollten die Annahme testen, auf der auch alle Forstmodelle beruhen, um Unsicherheiten und Fehler zu vermeiden. Dafür haben wir uns in der Studie auf die Schlüsselbaumarten der gemässigten Wälder Westeuropas konzentriert.›
Die Forschenden sammelten zwei Jahre lang wöchentlich von August bis März Wurzelproben und Mikrokerne aus den Stämmen von ausgewachsenen Buchen und Birken in den Wäldern nahe Brasschaat im Norden Belgiens. Ausserdem führten sie ein Experiment mit jungen, in Töpfen gepflanzten Buchen, Birken, Eichen und Espen durch, welche etwa 1 m gross waren.
Die Topfbäume wuchsen an drei verschiedenen Standorten; in Brasschaat, in der Nähe von Barcelona in Spanien sowie in Oslo, also in Norwegen. Die Frage war, ob die verschiedenen Standorte im Zentrum und an den Rändern der gemässigten Zone Europas zu unterschiedlichen Resultaten führen würden. Insgesamt wurden 330 Bäume untersucht und mehr als 1000 Wurzelproben entnommen.
Überraschende Ergebnisse aus dem Untergrund
Was die Forscherinnen und Forscher entdeckten, überraschte alle. Das Holz im Stamm hörte im Herbst, wenn die Blätter fallen, erwartungsgemäss auf zu wachsen. Das Holz in den Wurzeln wuchs hingegen den ganzen Winter über weiter und sogar bis ins nächste Frühjahr hinein, bis sich die ersten Blätter neu entfalteten – an allen drei Standorten.
Die neu entdeckte Tatsache, dass die Wurzeln auch im Winter weiterwachsen, widerlegt die Annahme, dass das Wurzelwachstum gleich wie das Stammwachstum funktioniert. Das verändert das Verständnis davon, wie Bäume wachsen und ihre Kohlenstoffreserven verwalten.
‹Unsere Ergebnisse haben erhebliche Auswirkungen auf Waldmodelle, die sich bisher auf veraltete Annahmen über Wurzelwachstum stützen, was zu Fehlern bei der Vorhersage der Kohlenstoffspeicherung und Wachstumsdynamik von Wäldern führen kann›, sagt Studienleiter Matteo Campioli von der Universität Antwerpen.
Link www.uantwerpen.be