Lignum Holzwirtschaft Schweiz

Holzmöbel, die sich ganz von alleine in Form bringen

An der Universität Stuttgart verfolgt man einen neuen Ansatz für digitales Design und Fertigen mit dem Naturmaterial Holz: Unter Nutzung seiner natürlichen Eigenschaften werden Möbelstücke in flachem Zustand hergestellt, die sich beim Auspacken wie von Zauberhand selbst formen.

Beim ‹HygroShape›-Verfahren wird jedes Teil in einem hocheffizienten, planen Zustand mit einer Gesamtdicke von weniger als 3 cm hergestellt und transportiert und kann sich schliesslich bis zu einer Höhe von 50 cm, der Standardsitzhöhe eines Stuhls, selbst formen, was eine bis zu 30-fache Vergrösserung des Volumens bedeutet. Einmal geformt, sperren sich die Teile mechanisch und schaffen so Formstabilität. Das Spin-Off Unternehmen ‹hylo tech› führt die Erkundung der Anwendungsmöglichkeiten der ‹HygroShape›-Technologie fort, vom Möbeldesign bis hin zu tragenden Strukturen. H1 (oben) ist ein stehender Loungesessel. Seine Form entsteht durch die Entfaltung zweier miteinander verbundener Flächen. H2 ist eine Chaiselongue. Ihre beiden unterschiedlich programmierten Flächen formen sich gemeinsam, wobei die untere Fläche in die obere einrastet, sobald die Formgebung abgeschlossen ist. Damit wird die Struktur mechanisch fixiert.
Bilder Universität Stuttgart/Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung

 

Flaches Paket auspacken, warten, Platz nehmen: Das ist das Rezept für die Holzmöbel der dritten Art, an denen in Stuttgart getüftelt wird. Die programmierte Formänderung nach dem ‹HygroShape›-Konzept ergibt sich allein aus dem hygroskopischen Schwinden, einer natürlichen Eigenschaft von Holz. Sie geschieht geräuschlos, ohne menschliches Zutun, Werkzeug oder Montageanleitung und entfaltet sich gleichmässig und zügig, zum Beispiel über Nacht.

Das Projekt stellt einen Paradigmenwechsel in Design- und Fertigungsprozessen für Holz dar: Durch den Einsatz von Materialprogrammierung wird ein bislang ungenutztes Potential des nachwachsenden Materials Holz aktiviert und ermöglicht so nachhaltigere Verfahren und Anwendungen. Dies bringt eine neue Material- und Designsprache mit sich, in der sich die natürlichen Qualitäten und Eigenschaften von Holz direkt in Form und Funktion widerspiegeln.


Wasserhaushalt clever genutzt

Wie funktioniert das? ‹HygroShape› implementiert einen neuartigen Ansatz zur Materialprogrammierung für digitales Design und Fertigen, bei dem Funktionen, etwa eine Formänderung, physisch in das Materialsystem kodiert werden. Das Verfahren nutzt die Tatsache aus, dass eine Änderung des Volumens und der Steifigkeit mit einer Änderung des Feuchtigkeitsgehalts im Material korreliert.

Dieses hygroskopische Phänomen liegt in der Struktur und der chemischen Zusammensetzung der Zellwände von Holz begründet. Im nassen Zustand dehnen sich die Zellwände aus und ziehen sich beim Trocknen wieder zusammen, wobei die Intensität des Effekts stark von der Faserrichtung abhängt. Ein umfangreiches digitales Materialmodell, dem die physikalisch-mechanischen Eigenschaften des Holzes zugrunde liegen, ermöglicht die Berechnung dieses Schwindverhaltens. 


Verhalten im Material angelegt

In Kombination mit rechnergestützten Designmethoden wird daraus eine spezifische Materialsyntax entwickelt. Diese Syntax bestimmt die innere Zusammensetzung und den Feuchtigkeitsgehalt der mehrschichtigen Holzbauteile und programmiert so eine geplante Formungssequenz physisch in das Material. Die Bretter werden analog zum digitalen Modell zugesägt und in massgeschneiderter, mehrschichtiger Anordnung arrangiert.

Durch diese physische Kodierung wird jedes Stück im flachen Zustand so programmiert, dass bei Feuchtereduktion eine definierte gekrümmte Geometrie resultiert. Die Komponenten werden nach ihrer Fertigung im flachen Zustand versiegelt zum Endverbraucher transportiert, wo sie dann dem üblichen Innenraumklima ausgesetzt werden. Da sich diese Umgebung stark von der Produktionsumgebung unterscheidet, kommt es zu einer natürlichen Trocknung, bei der sich das Holz an seine Umgebungsfeuchte anpasst und gleichmässig formt.

 

Link www.icd.uni-stuttgart.de | Projektvideo (Vimeo)