Mobilier surprise – Holzmöbel proben die Zukunft
Oben: ‹Tense Lounge Chair›. Mitte: ‹Tschair›. Unten: ‹HygroShape›-Loungesessel und -Chaiselongue
Bilder Jagoda Wisniewska/Panter & Tourron (oben) | dukta – flexible wood (Mitte) | Robert Faulkner – ICD University of Stuttgart (unten)
Schnurgerade gezogene Grenzen über halbe Kontinente hinweg. Städte, in denen sich Strassen endlos im 90-Grad-Winkel kreuzen. Häuserkuben, in denen sich in rechtwinkligen Zimmern eckige und schwere Inneneinrichtung breitmacht: All das ist den beiden Lausanner Gestaltern Panter & Tourron ein Graus. Der Teil Panter des spannenden Duos ist der Italiener Stefano Panterotto mit Jahrgang 1988; der Teil Tourron der Franzose Alexis Tourron mit Jahrgang 1991. Kennengelernt haben sich die beiden an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL), die sie 2015 mit dem Master abgeschlossen haben.
Das Credo der beiden jungen Gestalter: die ‹Generation Airbnb› kann auf die Belastung durch Möbel verzichten, die nicht über denselben Freiheitsgrad verfügen, mit dem sie sich wohlfühlt. Mobiliar soll in den Augen der beiden Designer leicht und flexibel sein, Mobiliar für Nomaden, kurz gesagt. Und die haben bekanntlich wenig Eckiges bei sich; sie bevorzugen Rundes, das sich immer wieder auf- und abbauen lässt.
Von platt zu rund in wenigen Minuten
In ihrer Möbelrecherche ‹Tense›, erstmals gezeigt am Salone del Mobile 2019, haben Panter & Tourron diese Überlegungen in fünf Dinge zum Anfassen verwandelt. Dazu gehört der ‹Tense Lounge Chair›, ein faltbarer und leichtgewichtiger Sessel. Er besteht aus zwei dünnen, flexiblen Holzplatten unterschiedlichen Zuschnitts, die jeweils in einer textilen Hülle stecken. Es handelt sich um Biegesperrholz, ein Material, das im Möbel- und Innenausbau gern für Rundungen genutzt wird.
Die Einzelteile kommen in einem flachen Paket daher. Durch Biegen, Falten, Abspannen entsteht aus den Elementen, die mittels eines umlaufenden Reissverschlusses miteinander verbunden werden, die fertige Sitzgelegenheit. Der Entwurf überzeugte 2021 die Jury des Design Preises Schweiz in der Kategorie ‹Furniture› durch seine formale Eigenständigkeit und den minimalen Materialeinsatz. Der Wermutstropfen: Das smarte Möbel gibt es leider nirgendwo zu kaufen. Es wurde nicht kommerzialisiert.
Wenn Holz zur Gummischlange wird
Einen ganz eigenen Weg, um Holzplatten geschmeidig zu machen und in Rundformen zu bringen, hat der gelernte Bau- und Möbelschreiner Serge Lunin ab 2007 mit ‹dukta› entwickelt. Der Holz-Tüftler hat 35 Jahre lang an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK unterrichtet. Zusammen mit seinem 2015 ins Geschäft eingestiegenen Sohn Pablo, einem gelernten Produkt- und Industriedesigner, führt er die 2011 gegründete Firma dukta GmbH.
Die beiden haben sich der Kunst verschrieben, Holzwerkstoffplatten – in der Regel Sperrholz, Mehrschichtplatten oder MDF, ausnahmsweise auch einmal Massivholz – mit der Fräse so zu perforieren, dass sie quer zu den Schnitten fast schon gummiartig biegsam werden. Die Platten entfalten damit die volle Flexibilität des Materials, während die statische Festigkeit in der Schnittrichtung unverändert erhalten bleibt. Man kann Lamellen aus so eingeschnittenem Holz buchstäblich verknoten.
Anschmiegsame Platte im Rücken
Der neuste Wurf der dukta-Macher ist der Sessel ‹Tschair›, entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Winterthurer Architekten Elias Leimbacher: Eine nach dem dukta-Verfahren eingeschnittene Birkensperrholz-Platte folgt, in einem Stahlrohrgestell aufgehängt, in einer sanften Welle der Schwerkraft. Den oberen und unteren Abschluss sowie die Auflage für die Arme machen gerundete Stücke aus massivem Ahorn. Dazu gibt es einen passenden Ottoman.
‹Tschair› steht in den Worten seiner Designer ‹für luftiges, komfortables und ergonomisches Sitzen in Kombination mit Eleganz und klassischem Look›. Man glaubt es kaum, wenn man weiss, wie bocksteif das Ausgangsmaterial ist, aber man sitzt in diesem Sessel sehr bequem, wie ein Selbsttest ergibt. Optional gibt es aber doch auch eine farbige Filzauflage dazu. Mit einer beweglichen Leiste lässt sich überdies die persönliche Sitzkurve einstellen. Zu haben ist ‹Tschair› exklusiv im Direktverkauf bei seinen Machern. Alles an diesem faszinierenden Möbel wird komplett in der Schweiz hergestellt – das hat seinen Preis.
Selbstformende Holzmöbel
Holzmöbel, die in einem flachen Paket nach Hause kommen und sich nach dem Auspacken aufgrund einer cleveren Einstellung der Materialeigenschaften dauerhaft selber formen: daran knobeln deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Forscherinnen und Forscher am Institut für computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung der Universität Stuttgart setzen dafür die natürliche Fähigkeit von Holz zum hygroskopischen Schwinden ein. Einfach gesagt: Holz reagiert auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit; es ‹verzieht sich›.
Das wird oft bloss als Ärger erlebt – man kann es sich aber auch kontrolliert zunutze machen. Die Stuttgarter Forscherinnen und Forscher können das Schwindverhalten in einem digitalen Materialmodell, dem die physikalisch-mechanischen Eigenschaften des gewählten Holzes zugrunde liegen, exakt berechnen. In Kombination mit rechnergestützten Designmethoden wird daraus eine spezifische Materialsyntax entwickelt. Damit können sie dem Holz sein künftiges Verhalten unter bestimmten äusseren Bedingungen genau einschreiben.
Abrakadabra – Möbel heb dich
Die Lamellen, für Möbelzwecke 4–14 mm dick und mit einem Feuchtegehalt von etwa 20%, werden nach Vorgabe des digitalen Modells zugeschnitten und in mindestens zwei Schichten massgeschneidert angeordnet. Durch diese physische Kodierung wird jedes Stück in flachem Zustand so programmiert, dass bei Feuchtereduktion eine definierte gekrümmte Geometrie resultiert.
Die flachen Komponenten gelangen versiegelt zum Konsumenten, wo sie sich nach dem Auspacken je nach Schichtdicke in ein bis drei Tagen zur vorgesehenen Form entfalten, wie Laura Kiesewetter erklärt. Die Architektin ist Teil des ‹HygroShape›-Projektteams um Prof. Achim Menges, dem auch der Ingenieur Dylan Wood angehört. Das Team hat die Technologie ab 2019 entwickelt. Kiesewetter und Dylan wollen nun diesen neuen Ansatz der biologischen Formung in einem Spin-off namens ‹hylo tech› zum Fliegen bringen.
Gleich vorweg: Von der Markttauglichkeit sind die ‹HygroShape›-Möbel noch weit entfernt; es gibt sie nirgends zu kaufen. Bislang sind als ‹Proof of concept› ein Loungesessel und eine Chaiselongue aus Ahorn-Massivholz als Prototypen entstanden; getestet wurden auch Kirsche und Buche. Es handelt sich hier also definitiv noch um Zukunftsmusik. Etwas vermögen die ersten ‹HygroShape›-Möbel aber bereits heute: Staunen und Neugierde zu wecken. Man kann sicher sein: Da kommt noch mehr.
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